Individuelle Gesundheitsleistungen

Zum Umgang mit individuellen Gesundheitsleistungen

Beschlossen vom 109. Deutschen Ärztetag (23.-26. Mai 2006 in Magdeburg).

Medizinische Versorgung, die über den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hinausgeht, hat es schon immer gegeben. Nach Einführung der Budgetierung 1993 und einer Veröffentlichung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung über "individuelle Gesundheitsleistungen" (IGeL) * werden derartige Leistungen jedoch vermehrt von Ärztinnen und Ärzten angeboten oder von Patientinnen und Patienten nachgefragt. Grund hierfür ist insbesondere, dass die Notwendigkeit einer Behandlungsmaßnahme als Leistungsvoraussetzung unter dem Sparzwang der GKV heute tendenziell enger beurteilt wird. Zunehmend stellt sich die Frage, ob deren Leistungsumfang noch dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht.

Patientinnen und Patienten äußern jedoch den Wunsch nach der bestmöglichen Versorgung, auch soweit diese über den Leistungsumfang der GKV hinausgeht. Es kann Ärztinnen und Ärzten nicht grundsätzlich verwehrt werden, diesem Verlangen nach einer aus Sicht der Patienten wünschenswerten Behandlung Rechnung zu tragen. Das gilt auch dann, wenn Leistungen ohne Zusammenhang mit einer Heilbehandlung nachgefragt und erbracht werden. In einem zunehmend von der Ökonomie geprägten Gesundheitssystem muss es Ärztinnen und Ärzten erlaubt sein, auf eine solche Nachfrage zu reagieren und insoweit auch ökonomisch zu handeln, um ihre freiberufliche Tätigkeit und Existenz zu sichern.

Vor diesem Hintergrund lassen sich individuelle Gesundheitsleistungen unterscheiden in

  • erforderliche Leistungen, die von der GKV nicht gezahlt werden,
  • ärztlich empfehlenswerte Leistungen außerhalb des GKV-Systems und
  • von Patientinnen und Patienten initiativ gewünschte, ärztlich vertretbare Leistungen.


* individualvertragliche Leistungen im Gegensatz zu kollektivvertraglichen Leistungen im GKV-System

Nach ihrem Verhältnis zu GKV-Leistungen kann es sich zum einen um Leistungen handeln, die aus dem Leistungsumfang der GKV ausgeschlossen sind, die sich aber im Einzelfalle als sinnvolle Diagnostik oder Therapie anbieten können. Angesichts komplexer Verfahren zur Aufnahme neuer Methoden in den Leistungsumfang der GKV und hoher, insbesondere bei seltenen Erkrankungen schwierig zu erfüllender Anforderungen an eine evidenzbasierte Aufnahmeentscheidung können bei neuen Methoden Situationen auftreten, in denen eine Behandlung außerhalb des Leistungsumfangs der GKV nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse zu empfehlen ist. Hinzu kommen empfehlenswerte ärztliche Leistungen, die wie z. B. reise- oder sportmedizinische Untersuchungen oder ein jährlicher Check-up nie zum Leistungsumfang der GKV gehört haben und auch in Zukunft kaum zum Leistungsumfang einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung zählen werden. Schließlich können Leistungen je nach Lage des einzelnen Falles vom Leistungsumfang der GKV gedeckt sein oder eine individuelle Gesundheitsleistung darstellen, letzteres beispielsweise, wenn ohne Indikation eine Diagnostik gewünscht wird, die auch nicht als Präventionsleistung zum Leistungsumfang der GKV zählt.

Individuelle Gesundheitsleistungen sind danach zu verstehen als ärztliche Leistungen, die

  • generell oder im Einzelfall nicht der Leistungspflicht der GKV unterliegen,
  • aus ärztlicher Sicht erforderlich oder empfehlenswert, zumindest aber vertretbar sind und
  • von Patientinnen und Patienten ausdrücklich gewünscht werden.

Jedes Angebot individueller Gesundheitsleistungen muss der hohen ärztlichen Verantwortung gegenüber Patientinnen und Patienten Rechnung tragen, die auch bei nicht notwendigen Leistungen nicht zu Kunden werden. Nur ein seriöses Anbieten individueller Gesundheitsleistungen kann das für den Erfolg jeder Heilbehandlung unverzichtbare Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Ärzten erhalten. Daher muss in jedem Falle den Anforderungen des Berufsrechts Rechnung getragen werden, das eine gewissenhafte Versorgung mit geeigneten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gebietet (§ 11 Abs. 1 MBO) und es verbietet, diagnostische oder therapeutische Methoden unter missbräuchlicher Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit oder der Hilflosigkeit von Patientinnen und Patienten anzuwenden (§ 11 Abs. 2 MBO). Davon ausgehend sind bei Angebot und Erbringen individueller Gesundheitsleistungen folgende Gebote zu beachten:

1. Sachliche Information

Sachliche Informationen über das jeweilige Angebot individueller Gesundheits-leistungen sind zulässig. Sie dürfen den Leistungsumfang der GKV nicht pauschal als unzureichend abwerten. Unzulässig sind marktschreierische und anpreisende Werbung und eine Koppelung sachlicher Informationen über individuelle Gesundheitsleistungen mit produktbezogener Werbung. Individuelle Gesundheitsleistungen dürfen nicht aufgedrängt werden. Gleiches gilt, wenn die Information durch das Praxispersonal erfolgt.

2. Zulässige Leistungen

Das Angebot individueller Gesundheitsleistungen muss sich beziehen auf Leistungen, die entweder notwendig oder aus ärztlicher Sicht empfehlenswert bzw. sinnvoll, zumindest aber vertretbar sind. Es darf sich nicht um gewerbliche Dienstleistungen  handeln.

3. Korrekte und transparente Indikationsstellung

Bei Leistungen, die bei entsprechender Indikation als Leistungen der GKV zu erbringen sind, besteht eine besondere Verantwortung, eine etwaige Indikation korrekt und zugleich transparent zu stellen. Das gilt insbesondere deshalb, weil oftmals keine klare Grenzziehung möglich ist und weil Patientinnen und Patienten ohne transparente Darlegung der Indikationsstellung deren Richtigkeit kaum überprüfen und nicht eigenverantwortlich über die Inanspruchnahme einer individuellen Gesundheitsleistung entscheiden können.

4. Seriöse Beratung

Jegliche Beratung im Zusammenhang mit individuellen Gesundheitsleistungen muss so erfolgen, dass die Patientin oder der Patient nicht verunsichert oder gar verängstigt wird, dass nicht zur Inanspruchnahme einer Leistung gedrängt wird und dass keine falschen Erwartungen hinsichtlich des Erfolges einer Behandlung geweckt werden.

5. Aufklärung

Die erforderliche Aufklärung richtet sich nach den für die Patientenaufklärung generell geltenden Regeln. Bei Leistungen, die nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen, muss umfassend über mögliche Alternativen sowie darüber aufgeklärt werden, warum eine Behandlung mit nicht anerkannten Methoden in Betracht zu ziehen ist. Eine besondere ärztliche Darlegungslast besteht bei Leistungen, die durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses von der Leistungspflicht der GKV ausgeschlossen sind oder die aus ärztlicher Sicht nicht als empfehlenswert oder sinnvoll zu betrachten sind. Im übrigen besteht eine Pflicht zur wirtschaftlichen Aufklärung über die zu erwartenden Behandlungskosten.

6. Angemessene Informations- und Bedenkzeit

Das Recht der Patientinnen und Patienten, eine Zweitmeinung einzuholen, muss nicht nur respektiert werden, ggf. sollten sie sogar aktiv auf diese Möglichkeit hingewiesen werden. Ebenfalls sollten sie darüber informiert werden, dass sie leistungsrechtliche Fragen ggf. mit ihrer Krankenkasse oder mit Dritten klären können. Dem Patienten und der Patientin muss vor Abschluss des Behandlungsvertrages eine der Leistung angemessene Bedenkzeit gewährt werden.

7. Schriftlicher Behandlungsvertrag

Für den Fall, dass individuelle Gesundheitsleistungen von Vertragsärzten gegenüber gesetzlich Krankenversicherten erbracht werden, schreibt der Bundesmantelvertrag einen schriftlichen Behandlungsvertrag zwingend vor. Er sollte die Leistungen anhand von Gebührenpositionen der Amtlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) konkretisieren und den Steigerungssatz festlegen sowie den ausdrücklichen Hinweis enthalten, dass die Leistungen mangels Leistungspflicht der GKV privat zu honorieren sind. Ein solcher Behandlungsvertrag sollte auch in Fällen geschlossen  werden, in denen er nicht zwingend vorgeschrieben ist.

8. Koppelung mit sonstigen Behandlungen

Von Ausnahmen abgesehen sollten individuelle Gesundheitsleistungen nicht in Zusammenhang mit Behandlungsmaßnahmen zu Lasten der GKV, sondern grundsätzlich davon getrennt erbracht werden.

9. Einhaltung von Gebietsgrenzen und Qualität

Ärztinnen und Ärzte müssen die Grenzen ihres jeweiligen Fachgebiets auch bei Erbringen individueller Gesundheitsleistungen beachten. Qualitätsanforderungen der GKV sind zu beachten, wenn sie zugleich dem medizinischen Standard entsprechen.

10. GOÄ-Liquidation

Die Rechnungsstellung bezüglich individueller Gesundheitsleistungen erfolgt nach allgemeinen Regeln.  Dementsprechend ist Grundlage für die Behandlungsabrechung ausschließlich die GOÄ. Pauschale  Vergütungen sind unzulässig.